Die Jaguar-Geister

Es gibt Jaguare, die in den Menschen leben. Zwei von ihnen lebten in Dayumas Großvater Kadae, und sie sprachen zu ihm. Sie sprachen zu ihm über viele Dinge, die passieren würden. Eines Nachts sagten sie zu Kadae:

„Es leben nur noch wenige von Euch Huaorani; aber ihr speert Euch gegenseitig und dann werden nicht mehr viele von Euch übrig bleiben. Ihr speert andere und sie werden Euch im Gegenzug speeren. Auf diese Weise werden nicht mehr viele Huaorani übrig bleiben. Dann werden die paar Kinder, die übrig bleiben, aufwachsen und auch sie werden sich speeren. Dann werden nur noch zehn übrigbleiben. Es wird neue Speerungen geben und nur noch vier bleiben übrig. Dann werden die Fremden kommen und Euer ganzes Land nehmen. Wir zwei Jaguargeister sahen die Fremden. Wieviele Fremde gibt es? Es gibt viele und viele und viele von ihnen. Es gibt andere, die dort leben, wo keine Bäume wachsen. Wir sind weit weg über die großen Wasser gewandert und wir sahen sie dort. Diejenigen, die ganz hier in der Nähe leben, sind klein wie die Huaorani, aber die anderen, die weit weg leben, sie sind groß. Wenn die Fremden kommen, werden keine Huaorani übrig bleiben. Sie werden das ganze Land nehmen. Wir sagen das nicht nur so. Alle von Euch werden sterben", warnten Großvaters Jaguare, „wenn ihr sie nicht zuerst speert!"

Dayuma hatte von ihrer Mutter Akawo von solchen Jaguargeistern gehört, deren Großvater von ihnen eingeladen worden war. „Mein Großvater wurde gespeert und er starb", hatte Akawo gesagt. „Meine Großmutter begrub ihn in der Hütte. Als sie eines Tages mit meiner Mutter den Pfad entlang ging, sah sie zwei Jaguare. Meine Mutter sagte: 'Das sind keine gewöhnlichen Jaguare, das sind die Jaguare, die im Körper meines Großvaters lebten.'

Nachdem mein Großvater gestorben war, saßen meine Mutter und ihre Freunde in der Hütte, in der er begraben war. Die Jaguargeister meines Großvaters wurden zu Jaguarbabies. Sie kamen direkt aus einem Loch in der Hütte. Viele Leute, die mit meiner Mutter dort saßen, sahen, wie dies geschah. Zwei große Jaguare trugen die kleinen Jaguare mit ihren Zähnen und sie schleppten sie fort. Dann verschloß meine Großmutter das Loch und meine Mutter weinte und weinte. Als das geschehen war, kamen viele Wildschweine. Die Jaguare hatten sie gebracht. Die Huaorani speerten die Wildschweine und aßen sie."

Anmerkungen:
Die Vorstellung, daß Tiere im Körper von Menschen leben, ist bei den Huaorani (wie bei zahlreichen anderen Indianerstämmen) weit verbreitet. Kadae war offensichtlich ein Shamane. Auch Menatonghue, der Shamane der von mir besuchten Kommune Quehueire'ono, berichtet, daß in seinem Körper ein Jaguar und eine Boa leben.
Die Geschichte wurde vor vier Generationen (vom Großvater von Dayumas Mutter)erzählt, also kurz nach der Zeit, nachdem die Huaorani ihren ersten dauerhaften Kontakt mit den Weißen hatten und sie spiegelt diese neue Situation wider. Die Geschichte sagt ganz klar, daß die Fehden innerhalb des Huaorani-Stamms beendet und alle Kräfte gegen den neuen Feind gebündelt werden müssen.
Genau, wie in den anderen Geschichten „zehn" immer „sehr viele" bedeutet, bedeutet es hier „sehr wenige" (mag verwirren, ist aber so!). Die Formulierung „viele und viele und viele" habe ich aus dem Original übernommen. Da die Huaorani-Sprache große Zahlwörter nicht kennt, behilft man sich so. Ein Huaorani hat bei dieser Aussage eine recht genaue Vorstellung, daß es unzählbar viele sein müssen. Auch die Formulierung „Fremde" habe ich wörtlich übernommen. Im Original heißt es wohl „cowode" (wörtlich: Nicht-Menschen; gemeint sind Nicht-Huaorani). „Weit über die Großen Wasser" bedeutet „jenseits des Rio Napo" (also außerhalb des Huaorani-Stammesgebiets), die „kleinen Fremden" sind andere Indigene, die „großen Fremden" sind die Weißen und Mestizen. Mit „speeren" ist einfach „töten" gemeint (die Huaorani töt(et)en Menschen und größere Tiere nur mit dem Speer), die Tatsache, daß die Jaguare Wildschweine zu den Trauernden trieben, gibt die Huaorani-Vorstellung der Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits wider (vgl. hierzu auch die Geschichte „Drei Seelen habe ich").