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Vor langer, langer Zeit erzählten die Huaorani-Ältesten diese Geschichte: Vor langer Zeit hatten die Huaorani keine Cassava-Pflanzen. Es gab einfach keine. Unsere Vorfahren hatten immer süße Kartoffeln, und in jenen Tagen waren Süßkartoffeln ihre Hauptnahrung; sie hatten kein Cassava. Eines Tages ging einer unserer Huaorani-Krieger auf die Jagd, genau wie wir es heute tun, und als er nach Tierspuren suchte, sah er viele große Tapir-Fußspuren.
„Warum gibt es hier so viele Tapir-Fußspuren? Ich kann es einfach nicht herausfinden", dachte er. „Die Spuren sind direkt hier am Fluß, wo viele Cassavapflanzen wachsen". Sich immer noch darüber wundernd, ging der Huaorani schließlich weiter.
Später entschloß er sich jedoch, die Stelle noch einmal anzusehen. Er wunderte sich immer noch, warum so viele Tapirspuren in diesem Gebiet existierten. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, sah er schließlich, daß viele Tapire an der Cassava-Stelle lebten.
Dann sprach die Cassava-Pflanze zu ihm: „Nimm mich. Zieh meine Wurzel aus der Erde. Wenn meine Wurzeln herausgezogen sind, nimm mich mit Dir. Nachdem Du mich mit zu Deinem Haus genommen hast, schäle meine Haut und koche das Innere der Cassava. Dann iß es. Ich bin eine sehr leckere Nahrung."
„Ich werde es tun", sagte unser Vorfahr. Er nahm nur ein einziges Stück der Cassava-Wurzel mit sich, dann kochte er es und aß alles auf, bis zum letzten Bissen. Er fand, daß es sehr gut schmeckte. „Nun gehe ich und hole noch mehr Cassava", sagte er. Und er ging, um mehr zu holen.
„Dies ist, was Du mit mir tun mußt", sagte die Cassava-Pflanze. „Brich meinen Stengel, dann, nachdem Du die Bäume gefällt und das Unkraut gejätet hast, pflanz mich und laß mich wachsen. Wenn der Stengel wächst und Du siehst, daß ich Blätter habe, nimm mich noch nicht. Warte einfach, bis alle Blätter gewachsen sind, dann jäte das Unkraut und wenn Du siehst, daß die Cassava im Boden einen Hügel direkt an Boden des Stengels aufwirft, dann erst grab die Cassavawurzel aus, nimm sie und iß sie. Iß sie wie zuvor, dann pflanze mich auf anderen Lichtungen weiter und weiter weg. Ich werde wachsen und wenn Du Cassava ißt, wirst Du stark werden und leben", sagte die Cassava-Pflanze.
„In Ordnung. Ich werde tun, was Du mir gesagt hast", sagte er. Und er nahm die Cassavapflanze, fällte die Bäume, pflanzte sie und sah sie wachsen. Er jätete häufig das Unkraut; schließlich formte sich die Cassava-Wurzel. Er grub ein wenig aus, um zu sehen; aber sie war noch nicht voll entwickelt. Dann wurde die Wurzel so dick, daß sie einen Hügel aufwarf und die Huaorani erinnerten sich daran, was die Pflanze gesagt hatte: „Wenn es so ist, dann ist es reif." Also kochte der Mann und aß die Cassava. Dann sagte er zu seiner Huaorani-Familie und seinen Freunden: „Kommt und schaut! Ich nahm die Cassava der Tapire."
Später kam die Tapire und als sie sahen, daß die Huaorani jeden Bissen für ein Cassava-Festmahl genommen hatten und daß keine Cassava-Wurzeln mehr übrig waren, pfiffen und schrien sie laut: „Wo ist unser Cassava?!"
Dies ist, was vor langer, langer Zeit geschah. Und dies ist, wie mein Großvater uns diese Geschichte erzählte.
Anmerkungen: Diese Legende ist ein weiteres typisches Beispiel für das Bedürfnis, die Entstehung der Welt und der eigenen Lebensweise zu erklären. Dies findet sich bei nahezu allen Indianerstämmen in Südamerika (s. auch „Indianermärchen aus Südamerika", rororo-Taschenbuchverlag). Daß sich Dinge verwandeln und Tiere und Pflanzen sprechen, ist für die Huaorani nichts Außergewöhnliches. Schließlich haben alle Lebewesen eine Seele. Natürlich ist diese Geschichte auch eine „Anleitung", wie man Cassava anzubauen hat. So wird dieses Wissen von einer Generation an die nächste weitergegeben. Übrigens: die Formulierung „Großvater" ist nicht immer wörtlich zu nehmen. Als Großväter werden gern alle Ahnen oder Altvorderen bezeichnet.
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