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Am Anfang war Injipoga, die Erde, und über Injipoga liegt Onae, der Himmel und dies ist eine Kuppel aus blauem Licht. In ihr wohnen seit Anbeginn der Welt Naenqui, unser guter Vater Sonne, und Nemoidi, die Sterne der Nacht. Doch Naenqui und Nemoidi hatten verschiedene Sprachen und sie wohnten nicht zusammen, sondern weit voneinander entfernt und während Naenqui am Tage die Onae durchstreift, sieht man Nemoidi nur in der Nacht.
Am Anfang waren Naenqui und Nemoidi und die beiden schliefen miteinander und sie hatten zehn Töchter und zehn Söhne. Aber weil Naenqui und Nemoidi verschiedene Sprachen hatten, hatten auch ihre Kinder verschiedene Sprachen und sie verstanden einander nicht. Und wie Naenqui und Nemoidi in der Onae, so zogen ihre Kinder in die Injipoga und sie verstreuten sich in alle Richtungen und gründeten die verschiedenen Stämme. Aber die Menschen damals sahen noch aus wie Tiere und sie hatten die Gestalt von Boa, Jaguar, Specht, Schildkröte und all' den anderen.
Am Anfang war Injipoga und aus ihr erwuchs der Heilige Baum, mit dem bis heute nur die Shamanen sprechen. Doch am Anfang der Welt lebte in dem Baum ein furchtbares Ungeheuer in Gestalt eines großen, dunklen Adlers und er fraß alle Tiere, die dem Baum zu nahe kamen.
„Wir müssen etwas unternehmen", sagten die Tiere. „Wir müssen diesen Baum fällen, damit der Adler herunterfällt und stirbt." Und viele tapfere Krieger machten sich auf, den Baum zu fällen, doch keinem gelang es und alle wurden gefressen. Da sagten die Tiere: „Du, Specht, Du hast einen spitzen Schnabel, Du kannst den Baum fällen." Der Specht war einverstanden und flog zu dem Baum, doch der Adler bemerkte ihn, wie er in den Stamm hieb und fraß auch ihn. Schließlich sagte die Spinne: „So kann das nicht weitergehen. Ich webe jetzt ein Netz um den Baum, damit der Adler uns nichts mehr anhaben kann. Danach laßt uns weitersehen." Die anderen fanden das eine gute Idee und also machte sich die Spinne auf zu dem Heiligen Baum und als der Adler eingeschlafen war, wob sie ein Netz um den Baum. Als der Adler erwachte, war er mächtig böse und schrie, aber er konnte nicht mehr aus seinem Baum heraus.
Da sagten die Tiere: „Du, Biber, Du hast scharfe Zähne, und jetzt, wo der Adler gefangen ist, kannst Du den Baum fällen." Der Biber war einverstanden und lief zu dem Baum. Viele Tage nagte er an dem Stamm und schließlich fiel der Baum zu Boden. Der Adler starb und aus seinem Blut wurden die Flüsse und aus dem Wasser wuchsen die Bäume und die Pflanzen und aus dem Jaguar wurden die Huaorani und die anderen Tiere verwandelten sich in die Shuar, die Quichua, die Cofane und all die anderen Cowode. Die Tiere aber, die der Adler gefressen hatte, blieben Tiere. Da sagten die Menschen: „Nie wieder wollen wir den Heiligen Baum fällen, denn wer weiß, was dann passiert." Und so ist es bis heute.
Anmerkungen: Das Verblüffende an dieser Erzählung ist, daß in ihr der Heilige Baum gefällt wird, wobei nicht so sehr die Tatsache, daß der Baum gefällt wird, den Anthropologen Rätsel aufgibt, sondern vielmehr der Umstand, daß die Huaorani offensichtlich schon sehr früh die Axt (oder vergleichbare Werkzeuge) gekannt haben müssen. Dies ist umso erstaunlicher, als daß sie die Axt so gut wie nicht benutzen und bei der Ankunft der Weißen im Jahr 1958 keine Äxte oder ähnliche Werkzeuge oder Waffen hergestellt wurden. Die Axt wurde als etwas von Gott Gegebenes angesehen, fand man einen Stein, der zur Axt taugte, wurde er mitunter benutzt, dann aber wieder weggeworfen. Die Axt hat also weiter keinen Nutzen oder Wert für die Huaorani (gehabt).
Dennoch ist die Geschichte vom Heiligen Baum eine der zentralen Erzählungen der Huaorani-Mythologie. Wo immer wir auftauchten und um eine Geschichte baten, bekamen wir auch diese zu hören, mit nur sehr geringen Variationen.
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